...im Gespräch mit Kerstin Claus (II)

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00:00:09:06 - 00:01:18:05

Jörg Fegert

KINDERCHANCEN - KINDER SCHÜTZEN. Willkommen beim Podcast von Ekin Deligöz, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, und Jörg Fegert, Kinder und Jugendpsychiater an der Universität Ulm. Und heute freuen wir uns besonders Frau Kerstin Claus, die Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Missbrauchs hier zu Gast zu haben in Ulm. Und wir wollen uns heute der Frage stellen, gemeinsam gegen sexuellen Missbrauch? Wie schaffen wir eine Kultur in dieser Gesellschaft, dass Missbrauch wahrgenommen wird? Und meine erste Frage als Arzt und als Wissenschaftler, der ja in dem Bereich auch schon wirklich viel versucht hat zu erforschen, was sind denn aus der Sicht der Bundesmissbrauchsbeauftragten noch die großen Wissenslücken, welche Erkenntnisdefizite haben wir? Was braucht es denn alles noch, dass wir eine solide Handlungsbasis haben?

00:01:18:14 - 00:02:23:19

Kerstin Claus

Das sind für mich drei Punkte, die erst mal total unterschiedlich klingen. Das eine ist, wir haben tatsächlich viel zu wenig Zahlen. Also wir kennen die Polizei-, die Kriminalstatistik, wir kennen Zahlen von Ärzten und Medizinern, das heißt, die haben bestimmte Zahlen einerseits des Feldes, die wir beleuchten können, die sind aber nicht wirklich zusammengeführt. Das heißt, jede Struktur sozusagen macht ihre eigenen Zahlen. Und das, was uns ganz grundlegend fehlt, ist tatsächlich das Dunkelfeld. Und warum ist es so wichtig zu wissen, wie viele Kinder und Jugendliche sind eigentlich betroffen in unserer Gesellschaft von sexualisierter Gewalt? Wenn wir den politischen Willen brauchen, und das wissen wir, dass wir ihn brauchen, damit sich etwas ändert, dann muss man begreifen, wie groß das Problem ist. Und ohne dieses Begreifen und auch dieses Nachhalten von Zahlen ändert sich dann was sind wir auf dem richtigen Weg mit dem, was wir tun in Prävention? Und so kommen wir nicht weiter. Also Punkt 1, wir brauchen viel mehr valide Zahlen und wir brauchen sie aktuell von jungen Menschen und nicht nur mit Blick auf eine ferne Vergangenheit.

00:02:24:03 - 00:03:04:17

Jörg Fegert

Darf ich da kurz einhaken? Weil das beschäftigt mich auch schon lang und wir haben ja immer - das Bundeskriminalamt gibt die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik. 2021 waren fünf und 10.507 Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs. Statistisch heißt das 43 pro Tag. Die Dunkelfeldzahlen, die wir aus Studien ahnen, auch für die europäische Region, sind zigfach höher. Und die Weltgemeinschaft hat ja bei den Nachhaltigkeitszielen das Ziel 16-2 beschlossen. Das heißt, gewaltfrei aufwachsen. Alle Länder haben sich verpflichtet, solche Zahlen zu erheben. Warum macht die Bundesrepublik das nicht?

00:03:05:11 - 00:04:01:04

Kerstin Claus

Also bisher gibt es dazu nicht den politischen Willen. Bisher wurde nicht ein, ich würde sagen, Forschungszentrum, in dem gezielt die Methoden und Mittel und dann auch die Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, beschlossen. Mein Ziel ist es, dass über eine Berichtspflicht im Bundestag, die jetzt sozusagen im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung steht, dass man da zu dem Ergebnis kommt, damit ich einen Bericht im Sinne eines Lagebericht, nicht im Sinne von Was macht Frau Claus, also wie sieht denn die Situation in Deutschland aus? Wie sieht sie auch runtergebrochen auf die Länder aus, damit ich diesen Bericht gut machen kann, dass man erkennt okay, dafür brauchen wir tatsächlich valide Zahlen. Und ich merke, dort, wo Länder ein Stück weit Bundesländern auch vorangegangen sind, in Hessen zum Beispiel mit der Studie Speak, wo man einen klareren Eindruck gewonnen hat von der Dimension und dem Dunkelfeld steigt auch die politische Verantwortungsübernahme, und deswegen ist es so wichtig.

00:04:01:14 - 00:04:03:18

Jörg Fegert

Habt ihr denn politischen Willen, Ekin?

00:04:04:13 - 00:05:12:03

Ekin Deligöz

Der politische Wille ist definitiv da. Ich finde, das Wichtigste ist, dass wir gerade in einer Umbruchzeit der Erkenntnis leben. Und einer dieser Erkenntnisse ist, dass als diese Beauftragtenstelle geschaffen wurde, hat man gedacht, die macht etwas Aufklärung und Aufarbeitung und dann ist das Projekt zu Ende. Und jetzt müssen wir zwölf Jahre danach feststellen, erstens ist es kein Projekt, zweitens es gibt kein Ende. Und drittens, wir brauchen dringend verlässliche Strukturen. Wir brauchen mit diesen verlässlichen Strukturen mehr an Daten, mehr an Information und basierend auf dieser Information und Daten müssen wir ein paar Entscheidungen fällen. Dazu gehört es auch, Sensibilisierung der Bevölkerung, der Gesellschaft, die Gesellschaft, das sind wir, wir alle, alle unsere Zuhörer, alle unsere Menschen um uns herum. Dazu brauchen wir ein Bewusstsein, dass Missbrauch die schlimmste Form von Gewalt ist und kein Bagatelldelikt, nichts Privates in der Familie, sondern eine Straftat. Und dass wir nicht nur konsequent handeln, sondern auch konsequent hinschauen müssen.

00:05:12:14 - 00:05:17:13

Jörg Fegert

Frau Claus, ich hatte Sie aber unterbrochen. Sie sagten erstens also kommt mindestens noch ein zweitens.

00:05:17:17 - 00:06:54:01

Kerstin Claus

Genau. Aber das gehört zusammen. Warum ist das Dunkelfeld so wichtig und warum muss man sich das sehr gezielt anschauen? Und da bin ich bei Täterstrategien und ich glaube, das ist uns insgesamt als Gesellschaft zu wenig klar, dass Gewalt gegen Kinder und Jugendliche per se etwas ist, wo wir aktiv sein müssen. Aber Gewalt ist sehr häufig etwas, was impulsiv, was aus Überforderung, was indirekt über Vernachlässigung geschieht. Täterstrategien im Kontext sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche beinhalten aber das Geheimniskonstrukt, dass darüber nicht gesprochen wird. Und das ist ja auch die große Krux, dass wir viel zu spät Taten aufdecken oder dass eben gar nicht darüber gesprochen wird. Und deswegen ist eine Dunkelfeld Studie so wichtig, die so stattfinden muss, dass auch junge Menschen befragt werden. Aber natürlich in einer Art und Weise, dass da rundrum auch ein Präventionsangebot, ein Hilfe- und Beratungsangebot mitgedacht wird. Denn wenn betroffene Kinder und Jugendliche oder in dem Fall unser Fokus auf Jugendliche, wenn die denn dann tatsächlich auch signalisieren, ja, das ist etwas in meiner Biografie, dann müssen wir ja auch schauen, wie bringen wir euch bestmöglich in das vorhandene Hilfe und Beratungs System? Und wir stärken und stützen wir euch. Und deswegen, wenn man nicht über Täterstrategien nachdenkt und über das, dass diese Gewalt aus der Strategie der Täter unsichtbar bleiben soll, dann wird das glaube ich erst so richtig klar, warum wir diese Dunkelfeldstudien brauchen, um tatsächlich die Dimension zu erkennen und das ist ja das was Täter versuchen zu verhindern. Die Dimension soll ja gerade nicht erkannt werden.

00:06:54:09 - 00:07:16:04

Jörg Fegert

Viel über Täterstrategien haben wir ja auch aus Aufarbeitung, Projekten und Prozessen gelernt. Ein Ziel der Stelle ist ja auch Aufarbeitung zu unterstützen. Ekin hat es gerade angesprochen. Ich frag mal so ein bisschen doof - warum braucht es heute immer noch Aufarbeitung bei verjährten Fällen? Ja, wie sehen Sie das?

00:07:16:14 - 00:08:14:04

Kerstin Claus

Ich würde ganz banal anfangen. Es gibt keine Schule, es gibt keinen Sportverein, in dem es nicht auch irgendwann mal sexualisierte Gewalt gegen ein Kind, gegen einen Jugendlichen gegeben hat. Das macht man sich aber nicht klar, macht man sich nicht bewusst, weil das Personal wechselt, weil nicht gesprochen wurde. Wenn ich heute aufarbeite, wenn Menschen, die vor 20 Jahren an dieser Schule waren, sagen und übrigens, da gab es den Lehrer und das, das und das vorgefallen, dann identifiziert man plötzlich okay, da gibt es Schwachstellen. Was hat denn nicht funktioniert in dem, wie wir gearbeitet haben? Warum haben wir es nicht gesehen? Und wenn man das begreift, dass es diese Schwachstellen gibt, dann bin ich viel näher an der Prävention, weil dann habe ich eine Motivation. Weil wenn ich Prävention verordne und sage, ihr müsst übrigens erstens, zweitens, drittens, dann wird noch längst nicht begriffen, warum. In der Aufarbeitung liegt die große Chance zu begreifen, warum muss ich das tun? Wo sind die Schwächen? Und was erreiche ich, wenn ich das heute besser mache?

00:08:14:16 - 00:08:47:13

Ekin Deligöz

Wir reden ja bei Aufarbeitung über Aufarbeitung in Institutionen. Wir reden auch über Aufarbeitung in der Gesellschaft. Wir reden auch über Berichte, die uns Zahlen, Daten, Informationen darüber liefern. Es gibt aber noch eine Ebene der Aufarbeitung, nämlich die ganz persönliche, individuelle der Betroffenen. Jörg Aus deinem Berufsfeld heraus, was bringt so eine Aufarbeitung den Menschen? Ist es manchmal nicht -, gibt es auch so was wie ein Recht auf Vergessen oder Wegschauen? Also selber in der eigenen Lage? Wie geht ihr denn damit um?

00:08:47:23 - 00:10:10:15

Jörg Fegert

Ja, wir sagen immer, wir können die Taten, die geschehen sind, nicht ungeschehen machen. Die sind da, die waren schlimm. Was unser Ziel ist, ist, möglichst gute Teilhabe am Leben heute zu ermöglichen. Ja, es muss kein Schicksal sein, quasi ein Opferdasein sein Leben lang zu führen, sondern man hat Schlimmes erlebt und man kann unter diesen Erfahrungen auch wachsen. Und es gibt relativ viel Literatur von Betroffenen selbst, aber auch von Forschern, die diese Stärken, die darin liegen, auch betonen. Wir haben sehr effektive, gute Therapien, also wir können quasi das Missbrauchserleben nicht ausradieren, aber wir können die Stärken stärken und wir können vor allem Folgen, wie Angst, in die Öffentlichkeit zu gehen, wie sozialen Rückzug usw, die müssen wir früh angehen. Deshalb haben wir beide uns auch, als es um die Reform des sozialen Entschädigung Unrechts ging, zu einem schnellen Zugang zu Beratungsstellen im Traumabereich eingesetzt. Es hilft nichts, darüber zig Jahre später dann in Verfahren nachzudenken, sondern die Betroffenen müssen schnellen Zugang haben, der sie ermutigt, am täglichen Leben wieder teilzunehmen.

00:10:10:16 - 00:10:49:05

Ekin Deligöz

Wenn Jörg Eggert gerade von “wir beide” redet, redet er von sich und Kerstin Claus Wir beide. Kerstin, da will ich noch eine andere Frage stellen. Ich kann mich noch erinnern, als Jörg und ich gemeinsam an einer Anhörung von Betroffenen saßen. Es ging über mehrere Tage und irgendwann mittendrin musste ich gestehen, lieber Jörg, du bist dafür ausgebildet, du musst es durchhalten, ich bin es aber nicht. Ich kann es gerade nicht. Ich muss gerade mal raus. Wie hältst du das aus? Weil, auch du führst ja sehr viele Gespräche mit Betroffenen. Wie hältst du all dieses Leid aus? Allein das Zuhören ist ja gar nicht so einfach.

00:10:49:17 - 00:12:35:20

Kerstin Claus

Das stimmt. Und ich muss sagen, ich bin unheimlich froh. Und ich habe in meinem Leben nie so viel gelernt wie in diesen Jahren im Betroffenenrat, weil dort eine Mischung von Betroffenen aus den verschiedensten Kontexten mit den verschiedensten Biografien sitzt. Und wir reden und haben nicht geredet über das, was wir erlebt haben an Gewalt. Aber es floss natürlich immer mal hinein, und darüber war es eine Perspektive, die sich Schritt für Schritt aufbauen konnte, immer verbunden mit Was hätte es gebraucht, was braucht es auch heute noch für mich als erwachsenen Menschen? Und diese Perspektive immer wieder zu sehen, dass dieses Sprechen Schritte sind, sozusagen zwei Lebensstränge zu verbinden, die oft sehr, sehr getrennt sind. Und ich habe gerade von Täterstrategien gesprochen, dieses Geheimniskonstrukt, das dazu führt, dass Betroffene in ihrem Schweigen ja immer noch die Taten der Täter fortsetzen, weil sie sich in dieses Konstrukt weiter, weil sie nicht wissen, wie sie sprechen können. Und ich glaube, dass diese Befreiung ein Stück weit vom Opfer, zu dem mich ein Täter gemacht hat, zu einer Betroffenen mit einer eigenen Gestaltungshoheit über die Biografie, so wie sie eben war, ist so unheimlich wichtig. Und deswegen muss man, glaube ich, immer wieder ganz genau hinsehen und auch hinhören und auch aushalten, wie monströs das teilweise ist, was Betroffene berichten. Und auf eine gewisse Art und Weise bin ich froh, dass über Täternetzwerke, zuletzt haben wir Wermelskirchener das Stichwort in den Medien gehabt, die Gesellschaft lernen muss, auszuhalten, dass es diese monströse Gewalt tatsächlich gibt und welche Dimensionen die haben kann. Und ich glaube, das ist wichtig, um besser umgehen zu können und Betroffenen besser helfen zu können.

00:12:36:00 - 00:13:11:21

Ekin Deligöz

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