Obdachlosigkeit und Sofahopping

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00:00:09:06 - 00:01:57:12

Ekin Deligöz

Herzlich willkommen zu unserem Podcast KINDERCHANCEN - KINDER SCHÜTZEN. Am Mikrofon sind Professor Dr. Jörg Fegert und Ekin Deligöz. Das bin ich. Ich bin hier die grüne Abgeordnete und mittendrin in der Regierung, nämlich im Bundesfamilienministerium. Heute unterhalten wir uns über “Obdachlosigkeit und Sofahopping - bessere Chancen für Straßenkinder”. In Deutschland leben etwa 37.000 junge Menschen bis 26 Jahre auf der Straße. Etwa 6.500 von ihnen sind minderjährig, das heißt unter 18. Die Dunkelziffer dürfte aber weitaus höher sein. Viele von ihnen kommen zeitweise bei Freunden unter, couchsurfen oder pendeln zwischen den verschiedenen Notunterkünften. Sie haben sich von Familie, Schule und Jugendhilfe abgewendet und die Straße zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht. Diese jungen Menschen tragen oft ein ganzes Bündel an Problemen und Belastungen mit sich herum, blicken auf lange Jugendhilfekarrieren zurück. Und die Frage ist immer wieder, wie erreichen wir Straßenkinder? Wie schaffen wir es, ihnen neue, bessere Zukunftsperspektiven zu kriegen? Was sind eigentlich die Gründe für die Wohnungs- und Obdachlosigkeit von Jugendlichen? Und welche Auswirkungen hat das Leben auf der Straße? Bei letzteren haben wir, glaube ich, alle so ein bisschen Kopfkino und können uns ganz, ganz viel darunter vorstellen. Bei den ersteren, muss ich gestehen, fehlen mir die Antworten.

00:01:57:18 - 00:01:58:02

Ekin Deligöz

Hast du sie, Jörg?

00:01:58:02 - 00:06:10:17

Jörg Fegert

Nicht wirklich. Und vielleicht eine Sache, die man schon noch sagen muss - Das Leben auf der Straße ist enorm riskant und wir in der Medizin sehen eigentlich Straßenkinder nicht als eine normale Inanspruchnahme, dass jemand quasi eine Hilfe sucht, sondern im Notfall nach einen Suizidversuch, nach einer Drogenintoxikation, also einer Vergiftung quasi mit Alkohol oder Drogen oder auch wenn das Sofahopping schiefgegangen ist und sie sexuell ausgebeutet werden, irgendwo nicht mehr rauskommen, wo sie einen Übernachtungsplatz gesucht haben. Also das erste, was ich sagen würde ist, das ist gefährlich. Das zweite ist, wir haben quasi keine Forschung dazu und deshalb haben wir eigentlich auch nicht Unterstützungssysteme, die tatsächlich auf das Erfahrungswissen dieser Jugendlichen aufbaut. Und ich glaube, da haben wir zwei Aufgaben. Das eine ist, von den Fällen, die ich persönlich kennengelernt habe und die sich auch anvertraut haben, da können wir ganz, ganz viel lernen, was wir eigentlich mit unseren Hilfen falsch machen. Du hast ja gesagt, die haben schon ganz viel ausprobiert, ganz viel mitgemacht. Ja, und es ist eigentlich immer schlimmer geworden und vielen geht es einfach auch um ihre Autonomie. Wenigstens selbst bestimmen und für sich sorgen und nicht bevormundet werden. Und deshalb ist es für viele so schlimm, quasi, dass unsere Hilfen eigentlich immer nur einen Rahmen mit ganz vielen Regeln vorsehen und Wenn-Danns. Wenn du das machst, dann kannst du das haben. Und so weiter. Und aus dieser Geschichte sind sie ja gegenüber den Eltern, gegenüber anderen ausgestiegen. Viele haben Gewalterfahrungen. Und so weiter. Aber die richtige Lösung, wie wir die erreichen, die habe ich eigentlich nicht. Es gibt gute Initiativen, gute Projekte, alles, was ich kenne, was ich erfolgreich finde, läuft letztendlich über die Beziehung. Also, dass man dahin geht, wo sie sind, dass man wirklich auch Streetworker macht, dass man bekannt ist, dass man vertrauenswürdig wird und dann motivieren kann, vielleicht was zu verändern. Die größte Gruppe der jungen Menschen, die auf der Straße leben, ist tatsächlich ab 18, 19 Jahre alt. Das zeigt, womöglich geht genau dann was schief, wenn diese Kinder und Jugendlichen, also junge Menschen, vielleicht die Jugendhilfe verlassen. Dass sie sich dann verlassen fühlen, alleine fühlen. In der Politik suchen wir ja immer nach einfachen und schnellen Antworten. A plus B muss C ergeben. Und eine dieser Antworten ist, dass wir immer fordern, dass es Sozialarbeiter auf der Straße geben muss. Die berühmten Streetworker, also Straßen-, Sozialarbeiter oder Angebote, um sie zurückzuholen in die Gesellschaft, durch Wohnungs, WGs, durch Sozialwohnungen, Sozialraum, Nothilfe, Betreuung. Und nicht zuletzt diskutieren wir gerade ganz, ganz aktiv und massiv darüber Was heißt eigentlich Care Leaver? Also Kinder und Jugendliche, also eigentlich nur Jugendliche, Kinder lasse ich weg an der Stelle, die die Jugendhilfe verlassen, in ein Selbstständigwerden im Leben übertreten, dass wir sie nicht alleine lassen. Dass es Menschen gibt, die sich um sie kümmern, die sie begleiten, die für sie noch zur Verfügung stehen, für ihre Fragen, Antworten, Nöte. Aber bei all den Angeboten, die wir machen, stellen wir trotzdem fest, dass wir an unsere Grenzen stoßen. Jetzt hast du ja eigentlich schon vor Jahren gefordert, dass wir in diesem Bereich mehr an Forschung bräuchten, mehr Wissen für uns führen müssen. Das hast du jetzt auch wieder wiederholt. Wir reden aber auch natürlich über sehr viel Dunkelziffer, also vieles, was wir nicht wissen. Wie erreicht denn Forschung eigentlich solche Menschen, dass sie auch Antworten geben, die wir wiederum verwenden können in ihrem Sinne?

00:06:10:22 - 00:08:29:04

Jörg Fegert

Du, wenn du ein bisschen Zuwendung gibst und Mikro in der Hand hast, dann gibt es kaum jemanden, der nicht redet, wenn du zuhören kannst. Also wir machen die Erfahrung, wenn wir Gutachten machen im Jugendknast oder irgendwas, wo die Leute ein Interesse hätten, nicht alles zu erzählen. Zuwendung und Zuhören ist was unheimlich Mächtiges und kann bemächtigend sein. Und ich glaube, das ist nicht so schwierig, den Zugang darüber zu finden, dass man einfach sogenannte qualitative Interviews macht. Mich hat aber grad was anderes... Entschuldige, wenn ich so ein bisschen jetzt springe, aber weil du das so beschrieben hast mit dem Wie schaffen wir das, dass wir mehr für die sorgen. Ich glaube, der Grundfehler ist vorher, also ich ich karikiere jetzt mal, aber Jugendhilfe aus meiner Sicht geht so, dass je schwieriger jemand wird, je mehr Probleme er hat, desto teurere und komplexere Hilfen werden veranlasst. Eigentlich immer zu spät und man versucht bis zum 18. Geburtstag noch mal alles zu veranstalten, bis hin zu Zwangsunterbringung und alles mögliche. Und dann wird man plötzlich erwachsen. Und dann gibt es ein ganz anderes Sozialhilfe-Paradigma. Dann ist nicht mehr die fürsorgliche Belagerung, sondern New Labour, fördern und fordern. Die müssen selber Anträge stellen können für Hilfen, für das sie wohnen können usw., das haben die vorher nie gelernt, für sich zu sorgen. Also ich glaube ich würde es eher umdrehen. Natürlich muss im Erwachsenenbereich noch länger fürsorglich mit Jugendlichen umgegangen werden, aber wir müssen in der Jugendhilfe auch aus der fürsorglichen Belagerung rauskommen und die früher ihre eigenen Perspektiven entwickeln lassen. Sie bemündigen. Weil die haben natürlich auch ein großes Autonomiebedürfnis. Und wenn wir mal diese ganzen Behördenanträge und so was anguckt, das hat ja keinen hohen Spaßfaktor, aber wenn man nicht auf der Straße leben will, man nicht in Armut leben will, dann muss man diese Unterstützung, die es in unserer Gesellschaft gibt, in Anspruch nehmen können. Und dazu muss man auch Fertigkeiten erlernen.

00:08:30:00 - 00:09:38:05

Ekin Deligöz

Dazu passt ein Gesetz, das gerade in Vorbereitung ist. In einem anderen Folge haben wir das ja auch schon angesprochen, dass das Taschengeld, was Jugendliche und junge Erwachsene verdienen, wenn sie in Obhut oder externe Unterbringung sind, nicht gleich vom System eingezogen wird. Im Moment ist es so. Alle Einkommen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sofern sie in der Jugendhilfe untergebracht sind, werden als Beitrag eingezogen. Und das setzt natürlich das Signal, eure Leistung ist nichts wert, ihr könnt nicht Anspruch haben, ihr dürft nicht eure Wünsche selber verwirklichen, indem ihr euch dafür anstrengt. Und selbst bei Ausbildung, wenn ihr ein Ausbildungsgehalt kriegt, müsst ihr das erst mal abgeben. Und das motiviert nicht gerade und das macht auch nicht mündig. Mehr an Mündigkeit würde bedeuten, wenn du dir ein Taschengeld dazu verdienst, wenn du einen Ausbildungsvertrag hast, dann darfst du das auch behalten. Du darfst dann daraus dir ein Fahrrad, ein Handy, einen Führerschein finanzieren, ein Teil von dir selbst verwirklichen. Bräuchten wir noch mehr solcher Schritte?

00:09:38:12 - 00:11:17:24

Jörg Fegert

Ich denke auf jeden Fall. Es ist ja auch in der letzten Legislaturperiode beschlossen worden, dass es mehr Übergangsplanung braucht. Wir dürfen nicht so tun wie, bis 18 seid ihr jetzt in der Jugendhilfe und wir kümmern uns um euch. Und dann kommt dieser drastische Schritt. Sondern wir müssen früher anfangen zu überlegen, wie geht es danach weiter? Braucht der oder die Jugendliche noch eine WG? Und dann ist es auch sinnvoll, wenn es noch ganz um jugendtypische Entwicklungsschritte geht, wie der Abschluss der Schule, Abschluss einer Lehre, dass man eben nicht in den erwachsenen Sozialhilfebereich gedrängt wird, sondern dass eine Kontinuität in den Beziehungen da ist. Und ich glaube, da ist ganz, ganz viel zu machen, dass man quasi eine Entwicklungsplanung macht, wo die jungen Menschen immer stärker selber was zu sagen haben. Wir haben hier in Baden-Württemberg ja so mehrere Initiativen, die versuchen, durch Technologie Partizipation auch zu erleichtern. Und wir haben ein Projekt, wo es darum geht, wie Jugendliche selber eigentlich mal beschreiben können, in welchen Bereichen sie Unterstützung brauchen und dann selber auswerten können. Und quasi das, was später für einen Antrag beim Sozialamt gebraucht würde, sich selber erarbeiten, damit sie überhaupt mal auch die Denke verstehen, die auf der anderen Seite ist. Und ich glaub wir haben da auch technische Möglichkeiten, die bisher überhaupt nicht ausgeschöpft sind und könnten damit auch Verwaltung beschleunigen und modernisieren.

00:11:18:05 - 00:12:47:02

Ekin Deligöz

Ich finde das total spannend, weil mir die ganze Zeit durch den Kopf geht. Das kennen wir doch eigentlich alles. Zum Beispiel aus der Entwicklungshilfe. Hilfe zur Selbsthilfe, wenn man nicht den Brunnen selber macht, sondern hilft, ihn selber sich den Brunnen zu bauen. Und das ist ja so ein bisschen wie eine goldene Regel in dem Bereich. Auch ich springe jetzt mal in eine andere Richtung. 30 % der Wohnungslosen in Deutschland sind gar nicht allein. Die sind mit Partnern, mit Kindern, Partnerinnen auf der Straße, vor allem aber auch mit minderjährigen Kindern. Jetzt gibt es auch da manche politische Überlegung, wie zum Beispiel Wohnungslosigkeit vermeiden, sozialer Wohnungsbau, Wohnungsnot in Deutschland aufheben. Das ist ja ein ganz großes, brennendes Thema. Bezahlbare Wohnungen schaffen auch in Menschen, die in ALG II leben, dafür sorgen, dass sie nicht obdachlos werden. Aber wenn sie dann obdachlos werden, wieder zurück integrieren können, aber auch familienfreundliche Notunterkünfte zu gestalten. Das sind zwar alles Antworten, sie wirken manchmal, aber manchmal wirken sie auch nicht. Und ich weiß, dass auch ihr oben eigentlich auch Einrichtungen habt, wo ihr Kinder und ihre Eltern gemeinsam in Behandlung nehmt. Wie müssen wir das eigentlich betrachten? Also müssen wir Kinder von Eltern trennen, zusammendenken? Wie können wir eigentlich in solchen Konstellation helfen? Wie helft ihr den Eltern und den Kindern in der gemeinsamen Behandlung?

00:12:47:07 - 00:13:14:13

Jörg Fegert

Du, das war einer der Punkte, wo ich wirklich gescheitert bin. Wir waren mit die ersten, die eine Eltern-Kind-Behandlungseinheit hatten, gerade für junge Mütter. Es waren oft wirklich auch sehr sehr junge Mütter, die selber mit sich noch Probleme hatten, teilweise suizidal waren und die psychische Unterstützung brauchten und gleichzeitig, wo die Kinder in der Entwicklung schon so gefährdet waren, dass sie auch Unterstützung brauchten.

00:13:15:10 - 00:14:42:07

Jörg Fegert

Die Krankenkassen haben gedacht, wenn die Mutter da ist, dann braucht man ja weniger Pflege, weil, die kümmert sich um das Kind. Das eigentlich der Aufwand der doppelte oder dreifache ist, wurde quasi nicht erkannt und das Modell, obwohl es vom Land gewünscht war, scheiterte einfach an der Finanzierung. Ich denke, jeder Euro, der eine Familie wieder in Wohnungen bringt und in menschenwürdige Wohnungen bringt, ist gut investiert, weil die Folgekosten für Obdachlosigkeit immens sind. Und da bin ich dann wirklich eher-, ich will das auch nicht psychiatrisieren. Wenn man aus Armut quasi auf der Straße lebt, mit der Familie irgendwo unterschlüpfen muss. Das sind Dinge, die politisch angegangen werden müssen. Und ich denke, dass Kindergrundsicherung, das wirklich eine Finanzierung von Basisgrundlagen in diesem Bereich absolut wichtig ist. Und da haben wir teilweise auch immer so eine Moral vom selbstverschuldeten Unglück usw, das ist einfach Quatsch und die Kinder können sich ihre Eltern nicht aussuchen. Und wir können den Kindern aber nur helfen, wenn wir den Eltern auch einen Rahmen geben, weil die brauchen auch die Beziehung zu ihren Eltern und die wollen auch, dass ihre Eltern und die Kinder in Würde leben können.

00:14:42:15 - 00:15:13:23

Ekin Deligöz

Nicht auf alles haben wir Antworten, aber wir erkennen die richtigen Probleme und wir arbeiten daran. Auch hier in diesem Podcast. KINDERCHANCEN - KINDER SCHÜTZEN. Danke, dass Sie mit dabei waren.

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