Chancenräuber Armut

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00:00:09:06 - 00:01:25:03

Jörg Fegert

KINDERCHANCEN - KINDER SCHÜTZEN. Herzlich willkommen zu unserem Podcast. Ich sitze hier zusammen mit Ekin Deligöz, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Und ich bin Jörg Fegert, Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut am Universitätsklinikum in Ulm. Kinderchancen - Armut ist ja wirklich ein Chancenräuber. Kinderarmut, wie kann man sie wirksam bekämpfen? Mehr als jedes fünfte Kind lebt in Deutschland in Armut. 2021 hat Kinderarmut ein neues, trauriges Rekordhoch erreicht. Armut beeinträchtigt eigentlich alle Bereiche. Die Gesundheit, die Entwicklung, die kulturelle Teilhabe. Kinder brauchen Rechte. Kinder brauchen aber auch wirklich basale Chancen. Ekin, was kann man denn machen gegen die kurzfristigen und langfristigen Folgen von Armut? Wie kann man den Kindern diese Chancen geben?

00:01:25:20 - 00:03:10:24

Ekin Deligöz

Du hast die Zahl schon erwähnt, lieber Jörg. Jedes fünfte Kind in Deutschland, in so einem reichen Land wie Deutschland, lebt in Armut. Das heißt, sie bekommen weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens oder 60 % des Durchschnittseinkommens. Definieren wir Armut in Deutschland? Und das hat viele Gesichter. Es ist ein Kindergeburtstag, das ausfällt. Man kann sich ein Eis in der Eisdiele nicht leisten. Man kann vielleicht nicht am Schulausflug ausnehmen. Ich hatte neulich ein Gespräch als Kinderchancenkoordinatorin mit Kindern und Jugendlichen. Und da war ein fittes Mädchen, die gesagt hat Mensch, ich tanze wahnsinnig gern und ich kann das auch gut. Ich kann aber leider nie mit auftreten, weil dazu müsste ich dieses Tshirt vom Verein kaufen und dazu habe ich das Geld nicht. Ich kann nicht teilnehmen, ich kann nicht dabei sein und darauf brauchen wir Antworten. Ganz dringend Antworten, weil das prägt ein Kind in der Jugend und später im Leben. Und wir gehen in zwei Richtungen, die zusammengehören, die sozusagen die beiden Seiten einer Medaille sind. Das eine ist, wir brauchen die beste Infrastruktur für unsere Kinder. Wir brauchen auch materielle Leistungen. Und wir dürfen das eine nicht gegen das andere ausspielen. In dem Bereich der Infrastruktur wurde ja schon sehr, sehr viel auch vorangebracht, wie der Rechtsanspruch auf Kindertagesstätte ab dem ersten Lebensjahr. Wir reden jetzt in einem Schritt bis 2026 über Ausbau von Ganztagsschulen. An vielen Orten reden wir darüber, die Jugendhilfe zu stärken, auch die Sozialarbeit, auch die Zeit nach der Schule für unsere Kinder besser zu gestalten. Dass Musikschule, der Sport, dass Teilhabe, kulturelle, soziale Teilhabe, ein Teil dieser Infrastruktur ist. Über den zweiten Bereich materielle Armutsbekämpfung. Da sind wir in den Anfängen mit der Kindergrundsicherung.

00:03:11:04 - 00:03:23:11

Jörg Fegert

Und was heißt Kindergarten? Sicherung? Wie stellt ihr euch das vor? Wir haben ja im moment so ein Finanzwirrwarr von Kindergeld, von lauter einzelnen Leistungen. Da muss man ja selber schon studiert sein, um die alle abrufen zu können.

00:03:23:18 - 00:05:09:01

Ekin Deligöz

Das ist tatsächlich extrem kompliziert. Man kann sich das alles so ein bisschen wie eine Badewanne vorstellen. Also erst kommt ALG II mit einem Satz, dann kommt da das Kindergeld, da geht es schon ein bisschen runter. Für die Familien bis zu einem gewissen Einkommen gibt es den Kindergeldzuschlag, der dafür dienen soll, dass wenn die Eltern so viel verdienen, dass ihr Einkommen für ihr Leben ausreicht, aber nicht mehr für die der Kinder, gibt es ein erhöhtes Kindergeld, dann kommt so die mittlere Ebene. Da gibt es dann nur das Kindergeld und dann steigt dieser Betrag wieder, nämlich mit den Freibeträgen. Wir haben zwei Freibeträge, den existenziellen Freibetrag, Steuerfreibetrag, den wirklich alle absolut abschöpfen und darüber hinaus gibt es noch den Bildungs- und Betreuungsfreibetrag. Das interessante ist, ist mein Einkommen hoch, kommt das Finanzamt und errechnet das für mich und sagt, dein Einkommen ist hoch. Wir sorgen dafür, dass du alle deine Leistungen, auf die du Anspruch hast, über die Steuerbefreiung auch in Anspruch nehmen kannst. Ist mein Einkommen niedrig, muss ich das selber beantragen. Das heißt Formulare ausfüllen, zum Amt gehen, mein Recht durchsetzen. Und tatsächlich liegt hier auch die Schwäche. Es ist kompliziert. Es wird von vielen als bevormundend wahrgenommen. Manche haben auch Angst. Übrigens auch vor Stigmatisierung, vor der Verwaltung, vor der Organisation. Dass sie sich selber mit dem bisschen Geld, was sie vielleicht zur Seite gelegt haben, öffnen bzw ihre Daten freigeben müssen. Und das führt dazu, dass wir durchaus Ansprüche haben, wie zum Beispiel beim Kindergeldzuschlag, aber lediglich 20 % der Menschen, die den Anspruch drauf haben, es auch tatsächlich in Anspruch nehmen.

00:05:10:04 - 00:05:41:00

Jörg Fegert

Wird dir da nicht wirklich graus, wenn du denkst, das musst du als Politikerin verkaufen, das ist ja hochkomplex. Also irgendwie klingt es ja nicht wirklich sexy, was du grad erzählt hast, ist wirklich total schwierig. Kindergrundsicherung klingt toll, aber das kostet ja auch wirklich richtig viel Geld. Und weckt man da nicht Erwartungen, die man in der jetzigen Zeit gar nicht einlösen kann? Also kann man da nicht als Politik in jeder Richtung gegen die Wand laufen?

00:05:41:12 - 00:08:01:15

Ekin Deligöz

Tatsächlich stellt sich jeder was anderes vor unter der Kindergrundsicherung. Die einen glauben, mit zwei Kinder haben sie für ihr Leben ausgesorgt. Achtung Kinder werden erwachsen, haben dann ihre eigenen Ansprüche. Dann gilt auch nicht mehr die Kindergrundsicherung. Die gilt bis zum 18. Lebensjahr. Und danach greifen ja andere Leistungen, wie zum Beispiel Ausbildungsförderung oder Bafög. Auch darüber reden wir. Aber bei der Kindergrundsicherung reden wir tatsächlich erst mal über die Kindheit bis zum 18. Lebensjahr. Das zweite ist der Betrag, das ist immer die erste Frage, wie hoch ist der Betrag. Wir werden in den ersten Schritten nicht das komplette System außer Kraft setzen. Das wäre übrigens womöglich auch gar nicht finanzierbar, sondern es gibt Rechtsansprüche, also so was wie eine steuerliche Befreiung ist tatsächlich auch einen Rechtsanspruch. Das heißt, das werden wir auch beibehalten. Zunächst einmal konzentriert sich die Kindergrundsicherung in der Einführungsphase darauf, dass die unteren Einkommensgruppen die Ansprüche, die sie haben, ausbezahlt kriegen. Der Automatismus, der bei den höheren Einkommensgruppen gilt, muss auch selbstverständlich bei den unteren Einkommensgruppen gelten. Das alleine ist übrigens schon eine Wahnsinnsherausforderung, weil unser System komplex ist. Also ich brauche dir ja nichts über Sozialgesetzbücher zu erzählen, die sind sehr schwierig. Das gleiche gilt auch für das Finanzrecht. Warum ist das so? Weil wir natürlich den Anspruch haben, alle Menschen gleich zu behandeln, obwohl ihre Lebensentwürfe, Lebensschicksale, Lebenslagen so unterschiedlich sind wie alles. Deshalb vielleicht so kurz in der Komplexität trotzdem skizziert. Der erste Schritt ist, wir müssen rauskriegen, was ist der Mindestbedarf eines Kindes in Hartz IV/SGB2 Neuberechnung der Existenzsicherung des Kindes. In einem zweiten Schritt schauen wir, wie kriegen wir die Zahlungen automatisch ausbezahlt, auch den Kinderzuschlag? In einem dritten Schritt überprüfen wir die Höhe dieser Leistungen auf der mittleren Ebene. Und bis dahin reden wir übrigens auch darüber, wie wir in der akuten Situation, in der wir jetzt sind, die unteren Einkommensgruppen besser entlasten können.

00:08:02:07 - 00:08:11:24

Jörg Fegert

Heizkosten und akute Situation. Sprechen wir es doch an. Viele Leute gehen auf den Winter zu, wo sie nicht wissen, wie sie die Wohnung warm kriegen.

00:08:12:05 - 00:08:47:19

Ekin Deligöz

Genau, dazu gab es ja schon ein Entlastungpaket. Es gab 100€ Zuschlag, den bekommen auch ALG zwei EmpfängerInnen, bekommen Familien und es gab noch einen Schritt. 20 € pro Monat pro Kind in Kindergeldzuschlag und in ALG II insgesamt sind es 240 € im Jahr. Und das ist verstetigt. Das ist nicht eine Einmalzahlung. Und für alle, die das zu gering schätzen - In Familien in unteren Einkommensgruppen sind 240 € im Jahr sehr viel.

00:08:48:09 - 00:09:22:10

Jörg Fegert

Aber jede dieser positiven Nachrichten, die er aussendet, führt bei uns Kinderrechtslobbyisten ja dazu, dass irgendeiner sagt, das ist zu wenig, das reicht nicht, die Gruppe ist vergessen worden. Wie wollt ihr das denn überhaupt vom Erwartungsmanagement hinkriegen? Kindergrundsicherung klingt so toll und du hast jetzt deutlich gemacht, wie viel Schritte da nötig sind. Man braucht ja eigentlich die Leute, die enthusiastisch das gefordert haben. Und die werden aber vielleicht enttäuscht sein, dass das so kleine Schritte sind am Anfang.

00:09:22:12 - 00:10:59:00

Ekin Deligöz

Diese kleinen Schritte sind halt immer Milliarden. Wir sind in einer haushälterisch angespannten Lage. Wir konkurrieren um die Herausforderungen national und global. Und es gibt keinen Bereich, der sagen würde, ich komme mit weniger Geld aus. Wir geben derzeit knapp etwas über 50 % des Bundesetats an Sozialleistungen aus und der Bedarf steigt bei den Krankenkassen, in der Pflege, in einer älter werdenden Gesellschaft, in der Rente. Und in dieser konkurrierenden Lage kämpfen wir darum, Kinderarmut zu bekämpfen. Natürlich kann man jeden einzelnen Schritt niederreden, niederbrüllen, niederschreien als zu gering beurteilen. Man kann aber auch das auf der Habenseite sehen. Jeder kleine Schritt bringt uns einen Schritt nach vorne. Und weil die Lage so angespannt ist, brauchen wir Bündnispartner und Partnerinnen. Brauchen wir Zusammenhalt, brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens, einen gesellschaftlichen Konsens, der um jeden Schritt, um jeden einzelnen Schritt kämpft- Weil nichts davon ist selbstverständlich. Und alle Schritte sind immer im Milliardenbereich. Und wir sollten auch unsere Erfolge nicht zerreden. Das würden übrigens andere in anderen Bereichen niemals tun, sondern Erfolge auch als Erfolge benennen und hier den nächsten Schritt einfordern. Wir sollten uns darauf konzentrieren, was getan werden kann und was getan werden muss und ein Bündnis in dieser Gesellschaft für unsere Kinder gegen Armut gründen und dieses Bündnis auch lautstark verteidigen.

00:10:59:13 - 00:11:10:15

Jörg Fegert

Und dieses Bündnis kämpft für Kinderchancen und dafür, Kinder zu schützen. Und deshalb machen wir auch den Podcast, weil es braucht wirklich diesen Schulterschluss zugunsten von Kindern.

00:11:10:21 - 00:11:22:08

Ekin Deligöz

Ja und Jörg, auch du merkst das ja. Armut hat Auswirkungen auf das Leben von Kindern und manche dieser Kinder landen ja auch bei euch oben in der Klinik. Wie siehst du das denn?

00:11:22:18 - 00:12:26:04

Jörg Fegert

Wir wissen ganz klar über die Zusammenhänge von Armut und Entwicklungsproblemen. Es ist irgendwo- Wir haben vor Jahren mal vom wissenschaftlichen Beirat in Familienfragen ein Buch geschrieben über Kinder in Deutschland. Und da stand der erschreckende Befund drin, dass wenn ich den Zahnstatus von einem Kind mit sechs Jahren weiß, dann weiß ich seinen Bildungserfolg. Es gibt kaum ein Land, wo so eindeutig quasi vom Elternhaus abhängt und von den Ressourcen des Elternhauses abhängt, wie die Entwicklungschancen für ein Kind sind. Und deshalb, wie du genau gesagt hast, der Zweiklang zwischen auf der einen Seite gute Infrastruktur, gute Institutionen für alle Kinder und auf der anderen Seite individuelle Hilfe, die jedem ermöglicht, in Würde zu leben. Das brauchen wir, damit man nicht quasi aus der Not dann noch mehr sich schämt, psychische Probleme kriegt, Selbstwertprobleme kriegt, nicht lernen kann und immer mehr letztendlich dann auch Hilfe und Unterstützung braucht.

00:12:26:17 - 00:12:50:13

Ekin Deligöz

Also im wahrsten Sinne des Wortes KINDERCHANCEN - KINDER SCHÜTZEN.

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