Trauer (Sonderfolge)
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00:00:00:01 - 00:01:36:13
Jörg Fegert
KINDERCHANCEN. KINDER SCHÜTZEN. Wir sitzen heute in einer ganz besonderen Situation hier in Neu-Ulm zusammen. Es ist gerade nur ein paar Tage her. Liebe Ekin, das ein Mädchen auf dem Schulweg hier in Ober Kirchberg Kirchberg, hier ganz in der Nähe ermordet wurde. Du kennst die Familie. Du warst gestern bei der Trauerfeier. Ich habe dich mehrfach diese Woche gesehen und das ist jetzt uncharmant, aber man sieht es dir an, wie dich das ganze mitnimmt. Wir haben jetzt gerade gesagt, wir wollen eigentlich einen Sonderpodcast machen zum Thema Trauer, zum Thema, was macht das mit Eltern auch an Ängsten? Was passiert wenn ein Kind definitiv nicht geschützt werden konnte auf dem Schulweg? Wie finden wir trotzdem wieder in Alltag, weil Alltag Kindern Halt gibt? Und wie gehen wir auch selber mit der Situation um? Wir fanden es einfach unangemessen, unser geplantes Programm heute abzuspulen und Sendungen zu produzieren, wenn wir selber eigentlich so tief bewegt sind. Vielleicht steigst du mal ein hin und schilderst deine Gedanken.
00:01:36:16 - 00:06:00:18
Ekin Deligöz
Als am Montag durch die Nachrichten sickerte, ein junges Mädchen ist gestorben aufgrund eines brutalen Angriffs, war das erst mal eine Nachricht, wie viele andere, die man an den Tagen erhält. Wir haben uns fast schon an so schreckliche Nachrichten gewöhnt. Sei es hier aus Deutschland oder aus Europa und noch viel mehr aus USA. Und man klickt es weg und guckt sich um, was sonst noch so passiert. Und erst beim zweiten Blick ist mir aufgefallen, moment mal, diese Tat ist jetzt ein bisschen anders als alle anderen Beziehungstaten, Gewalttaten, die du liest, die allesamt sehr sehr schrecklich sind - sondern in dem Fall handelt sich um ein Kind, um ein Mensch und du kennst die Eltern, du kennst die Großeltern und ich kenne die ganze Großfamilie. Der Großvater hatte mal einen kleinen Laden in Senden in der Kleinstadt, wo ich herkomme. Ich kenne sozusagen den Vater des Kindes von klein auf beim Aufwachsen. Genauso die Mutter und deren Familie. Und jetzt ist deren Kind Opfer von einer schrecklichen Gewalttat. Das bewegt, das nimmt unheimlich mit. Es macht sehr viel Kopfkino. Das erste ist, dass man sagt - ich meine, es ist ja auch bekannt, dass ich selber Mutter bin - was ist mit meinen Kindern? Sind sie auch gefährdet? Und das Zweite ist die Politikerin in mir, die sagt Moment mal, die Schule, der Weg zur Schule, das muss der sicherste Ort auf Erden sein. 7:30 In einem Dorf, Schulbus. Wir Eltern verlassen uns darauf, dass es funktioniert. Dass unsere Kinder sicher in der Schule ankommen, sicher in der Schule sind, sicher wieder nach Hause kommen. Tagsüber hellichter Tag, viele Menschen auf dem Platz, in den Straßen und eigentlich haben sie alles richtig gemacht. Die Mutter hat der Tochter hinterher gewunken. Sie ist mit einer Freundin zu zweit und mit vielen anderen Kindern losgelaufen zum Schulbus, wo ja wieder andere Kinder hinkommen. Es waren Menschen auf der Straße, auf dem Weg zur Arbeit, auf dem Weg, ihre Kinder in den Kindergarten zu bringen, in die Grundschule, in die naheliegende, zu bringen. Also eigentlich ein sicherer Ort. Und genau da passiert so eine Schreckenstat mit so einem furchtbaren Ausgang. Das bringt einen selber zum Verzweifeln. Sehr nachdenklich. Und dann kommt das dritte dazu. Wir haben hier in der Region, die nahen Verwandten nicht, die Eltern erst recht nicht, aber auch viele andere Menschen gerade gar keine Chance zu trauern, weil in diesem kleinen Dorf, wo das stattgefunden hat, gerade Horden von Menschen einfallen. Viele fremde Gesichter, viele, die eigentlich was Gutes tun, aber natürlich erst mal nur dazu beitragen, dass noch mehr Menschen kommen. Der Innenminister war da, der türkische Botschafter ist hier. Es sind viele Menschen, die aus der Politik, aus der Gesellschaft dahin hinkommen. Viele Limousinen fahren durch dieses kleine Dörfchen. Es fällt auf, viel Polizeieinsatz. Es gibt Menschen, die das politisch instrumentalisieren wollen, die nicht gerade vertrauenserweckenden Anschein machen. Es sind Menschen, die einfach betroffen sind und dorthin pilgern, um Kerzen anzuzünden. Und dazwischen gibt es Menschen, die sind einfach nur tief betroffen. Es sind Kinder aus der Klasse, aus der Tanzgruppe, aus dem Freundeskreis, aus der Nachbarschaft, die sagen, das ist auch mein Weg, ich laufe auch diesen Weg. Es sind Eltern, die sagen, Was ist eigentlich mit meinen Kindern? Kann ich sie rauslassen? Es sind Ängste. Und vor allem - Ein Mensch ist Opfer von einer Gewalttat direkt vor unseren Augen. Das berührt. Es geht sehr nah. Auch mir. Ich merke das und wir haben gerade keine Chance, es zu verarbeiten. Und das wiederum macht mir zwischen all diesen vielen Rollen, die ich habe als Mensch, vor allem Sorgen, weil ich das Gefühl habe, es ist okay zu trauern. Es ist völlig okay, sich erst mal um das Opfer zu kümmern und nicht immer erst mal, sich mit dem Täter zu beschäftigen. Beim Täter setze ich auf den Rechtsstaat, auf die Kraft des Rechtsstaats. Ich vertraue darauf. Und ich bin stolz, in einem Land zu sein, wo das funktioniert. Aber die Opfer, die brauchen noch unseren Zusammenhalt. Und durch diese vielen Einflüsse habe ich ein bisschen Angst, dass dieser Zusammenhalt nicht stark genug ist und das nicht hält. Und da frage ich dich als Experten Wie macht man so was? Wie geht man durch den Tag mit so viel Schmerz, so viel Leid, wenn man eigentlich keine Chance hat, das Leid auch zu leben?
00:06:01:05 - 00:09:31:13
Jörg Fegert
Die Situation ist sicher eine extrem besondere. Was wir wissen ist, dass in allen bedrohlichen Situationen wir alle Menschen eigentlich die durch Rituale Halt bekommen, ob wir nun gläubig sind, eine Religion haben oder nicht. Viele Menschen haben einfach die Rituale und Bräuche ihrer Religion, die ihnen in den Situationen, wo sie selber eigentlich gar nicht mehr ihr Handeln bestimmen können, als Stütze erleben. Insofern ist das erste, denke ich, dass es wichtig ist, die normalen Trauervorgänge nicht zu stören, dass man einfach überhaupt dazu kommt, sich zu verabschieden und dass man - auch so ein Gefühl, ich habe, das klingt vielleicht komisch, aber mein Vater ist nach einem langen, erfüllten Leben letztes Jahr gestorben und irgendwann hatte ich nach der Beerdigung neben all der Trauer das Gefühl, ich habe es richtig gemacht und ich habe es so gemacht, wie er es gewollt hätte. Das kann man bei einem Kind gar nicht haben. Und trotzdem - dieses Gefühl, es stimmig zu machen, richtig zu machen, wenn man es schon nicht gut machen kann, ja, ist glaube ich, was ganz wichtiges. Was ich jetzt als ja bedrohliche Situation sehe, ist diese Sonderzuwendung, die du angesprochen hast. Das mediale Interesse, auch das Interesse der Politik. Das wird ja in paar Tagen vorbei sein, sage ich jetzt mal ganz brutal, weil es so ist. Und dann ist die Familie ihr Leben lang allein mit dem Schicksal, leiden Geschwister darunter, dass sie überlebt haben und das Mädchen sterben musste, stellt sich immer wieder die Sinnfrage. Auch warum ich? Warum? Warum sie? Warum nicht ich? Und so weiter. Wir wissen das aus der Therapie, von Kindern, die so was überlebt haben, wo ein Geschwisterkind gestorben ist. Wie schwierig das für diese Kinder ist. Also gilt mein Gedanke auch sehr stark den Geschwistern neben den Eltern, für die das unerträglich sein muss, so was beim eigenen Kind zu erleben. Für die Geschwister wird es vielleicht zu gegebener Zeit auch Hilfe brauchen, um damit umzugehen, weil das ist eine große Last im Leben. Und doch wird irgendwann auch der Gedanke kommen, die Schwester, die in Anführungszeichen ein normales Kind war, so ein Kind, das Freude am Leben hatte und so weiter, wird auch nicht gewollt haben, dass man ein ganzes Leben nicht mehr quasi sein eigenes Leben lebt. Aber das ist ein riesiger Schritt, den man machen muss. Und aus den Familien, die ich begleitet habe nach dem Tod von dem Kind, weiß ich auch von vielen Eltern, dass sie nicht mehr zu einem Leben zurückgefunden haben, wie sie es vorher hatten. Das ist ein Schicksal, was man so nicht loswerden kann.
00:09:33:06 - 00:10:11:02
Ekin Deligöz
Das ist tatsächlich das Schlimmste, was wir uns vorstellen können, das eigene Kind zu verlieren. In so jungen Jahren, in Kindheit. Und dann dennoch müssen wir Menschen das ja irgendwie verarbeiten können. Dieses Dörflein, die Freunde, die Bekannten, die Menschen, die dort leben, die haben schon alle im Moment - na ja, im Moment sind wir alle ein bisschen paralysiert, aber wir müssen es irgendwie überwinden und in den Tag wieder zurückfinden. Was hilft da? Was kann man da machen? Wie können wir, wie kann ich, wie können Menschen hier vor Ort anderen Menschen helfen, wieder zurückzufinden?
00:10:11:10 - 00:11:56:09
Jörg Fegert
Ja, wir raten nach solchen potenziell traumatisierenden Situationen eigentlich immer zum Alltag. Also das, was ich gerade so eher über kirchliche oder Glaubensrituale gesagt habe, das gilt auch für die ganz banalen Rituale des Alltags. Also wenn es normal ist, um die und die Zeit ins Bett zu gehen, wenn üblicherweise da eine Geschichte erzählt wird oder ein Lied gesungen wird oder was auch immer, dann sollte man das machen wie jeden Tag. Man sollte nicht vielleicht in der ersten Nacht oder so, wenn die Kinder extrem aufgeregt sind, dann nehmen manche Eltern die Kinder mit ins Bett. Aber eigentlich, je außergewöhnlicher ich die Tage gestalte, desto mehr signalisiere ich den Kindern auch, dass die ganze Welt nicht mehr in Ordnung ist. Und es geht schon sehr, sehr darum, dass wir wieder anfangen, in die Schule zu gehen, dass man Zutrauen hat in den Schulweg, dass man eine Normalität lebt, eine Normalität in der Bewusstheit. Ja, es ist ja ganz schnell jetzt - an der Stelle sind Kerzen, sind Blumen aufgebaut worden. Das ist nicht weg. Und trotzdem wünsche ich den Kindern dort in dem Dorf, dass bald wieder ein Zustand eintritt, wo sie nicht jedes Mal, wenn sie in die Schule gehen, daran denken müssen. Passiert mir jetzt so was, wo Sie vielleicht an Ihre ehemalige Freundin denken, wo Sie an die Person denken, Ihrer gedenken. Das ist ganz wichtig, weil in den Gedanken lebt sie fort. Aber wo sich die Kinder nicht bedroht fühlen?
00:11:56:24 - 00:12:15:09
Ekin Deligöz
Wie ist es eigentlich mit diesen ganzen Gästen, die wir gerade in der Region haben, wenn Politprominenz kommt, wenn viele, viele Gedenkminuten, -stunden abgehalten werden, hilft so etwas in der Traumasituation oder ist es eher belastend?
00:12:15:13 - 00:14:32:06
Jörg Fegert
Also es ist sicher für die Familie irgendwo auch noch mal belastend, weil so ein Politikerbesuch ja auch Aufregung macht und man dann Angst hat. Mache ich alles richtig? Wie benehme ich mich in so einer Situation? Wie gehe ich jetzt mit einem Minister, mit einem Botschafter usw um? Andererseits denke ich, würde die Politik nicht kommen, nicht reagieren, wäre das auch ein Zeichen von Ignoranz. Was wir in der Gesellschaft auch nicht akzeptieren würden. Also im Prinzip sind alle eigentlich in dieser Situation auch Gefangene. Meine Sorge ist einfach, im jetzigen Moment sind glaube ich, die Gefühle so überflutet, dass das einfach zur jetzigen Situation auch mit dazugehört. Aber wir wissen, wie schnelllebig diese Nachrichten sind. Du hast ja eingangs gesagt, man liest eigentlich jeden Tag irgendwas in der Zeitung und das berührt uns jetzt. Du kennst die Familie persönlich? Dann geht es uns nahe und die Frage ist, wer wird in drei Wochen noch an die Familie denken? Und da denke ich, fängt für mich Gemeinschaft und Solidarität und Unterstützung an und was ich auch sehr wichtig finde, das sage ich jetzt mal zu dir als Politikerin, vielleicht auch als Frage, ist, dass man nicht versucht, ohne dass man jetzt überhaupt weiß, was die Ursache war usw, dass man nicht versucht, Kapital, politisches Kapital aus der Situation zu schlagen. Also ich habe alles Verständnis für Politiker, die sich auch zeigen, um zu zeigen, hier ist der Rechtsstaat, um zu zeigen, wir stehen zu der Familie. Aber ich habe kein Verständnis für diejenigen, die jetzt schon ihr Süppchen kochen und sich einen Reim auf eine Tat machen, die wir alle noch nicht verstehen, weil eben noch nicht aufgeklärt ist, wie es dazu kam und was vielleicht. Als Psychiater denke ich auch immer, das kann auch eine drogeninduzierte Psychose sein. Das kann jemand sein, der wahnhaft reagiert, also der vielleicht gar nicht schuldfähig ist. Wir wissen das alles nicht. Und hier schon Vorverurteilungen zu haben, finde ich auch hochproblematisch.
00:14:33:07 - 00:17:07:21
Ekin Deligöz
Tatsächlich geht es mir auch so. Ich reagiere auch auf diese Frage nicht, sondern weise darauf hin, dass es nicht mein Auftrag ist, hier für Aufklärung zu sorgen, sondern das ist der Auftrag der staatlichen Hoheit, also sprich der Justiz. Die müssen der Sache nachgehen und dafür gibt es Regeln, Gesetze, Verfahren, ausgebildete Menschen. Das alles bin ich gar nicht. Das sind wir nicht, sondern das müssen die Stellen machen, die dafür befugt sind. Das nennt man auch Hoheit. Das, was ich tun kann, ist trösten, da sein und für die Zukunft darauf achten, wie können wir Strukturen so schaffen, dass so etwas nicht wieder passiert? Womöglich werden wir so etwas niemals verhindern, weil die Menschen so sind, wie sie sind und gesellschaftliche Situationen. Aber gemeinsam füreinander da sein, heißt ja auch Situationen erkennen. Und ja, Trost spenden. Und manchmal brauchen auch Politikerinnen ein Stück Trost. Und deshalb, habe ich mir gedacht, lese ich auch was vor. Das Mädchen, Ece ist ihr Name, war ja aus einer alevitischen Familie und auch uns im alevitischen Glauben spendet es Trost, wenn wir die Gedichte, die Geschichten, die Sätze der Alten, der Weisen, Gründerinnen und Gründer, ich sage auch ganz bewusst Gründerinnen, die gab es nämlich auch in unserem Glauben, uns mit auf den Weg gegeben haben. Und in den meisten dieser Gedichte Sprüche geht es auch ums Verzeihen. Und das ist manchmal das Schwierigste und das Entfernteste, was es gibt. Aber umso wichtiger ist, das Wort immer wieder in den Mund zu nehmen. Von Hacı Bektaş Veli, aus dem Hochland von Anatolien stammen die Sätze “Warum hassen, wenn es Liebe gibt? Warum Krieg, wenn es Frieden gibt? Warum Streit, wenn es Brüderlichkeit gibt? Warum Feindschaft, wenn es Freundschaft gibt? Warum? Warum Ungerechtigkeit, wenn es Gerechtigkeit gibt?” “Sevgi varken nefret niye, Baris varken savas niye Kardeslik varken didismek niye Dostluk varken düsmanlik niye Hosgörü varken bagnazhk niye, Ozgürlük varken tutsakhk niye, Adalet varken, haksizlik niye?”
00:17:08:01 - 00:17:43:08
Jörg Fegert
Sie finden Hinweise, falls Sie Beratung und Unterstützung brauchen, wo Sie Hilfe bekommen können, hier in den Notes zu unserer Podcast-Aufzeichnung.
Ismail Kaplan
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