Inklusive Jugendhilfe

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00:00:09:06 - 00:00:15:19

Intro: Kinder Chancen Kinder schützen. Der Podcast mit Jörg Fegert und Ekin Deligöz.

Intro: 00:00:18:14 - 00:01:37:15

Ekin Deligöz: Herzlich willkommen zu unserem Podcast "Kinderchancen: Kinder schützen!" Am Mikrofon sitzen für Sie Professor Dr. Jörg Fegert und Ekin Deligöz. Ich selbst bin Abgeordnete von Bündnis90/Die Grünen im Bundestag und derzeit Parlamentarische Staatssekretärin im Familienministerium. Wir unterhalten uns heute über das Thema "Inklusive Jugendhilfe - Kinderschutz für alle" und ich starte auch schon gleich mit meiner Frage. Kinder mit Behinderung. Kinder mit Behinderung sind zuallererst Kinder. Und das müssen wir auch so festhalten, weil sie haben die gleichen Rechte wie jedes andere Kind. Teilweise brauchen sie aber noch einen besonderen Schutz und Unterstützung, um Ihre Rechte wahrnehmen zu können. Welche Schutzbedürfnisse haben Kinder mit Behinderung und wie können wir ihnen gerecht werden? Darüber will ich mich mit Jörg Fegert unterhalten und ich nehme gleich mal ein Beispiel raus, um das zu verdeutlichen: Mehr als jedes vierte Kind mit Behinderung macht Gewalterfahrungen. Kinder mit Beeinträchtigungen haben drei bis viermal so hohes Risiko wie andere Kinder, Opfer von Gewalttaten zu werden. Warum ist das so? Und was können wir tun, um diese Kinder besser zu schützen, lieber Jörg?

Ekin Deligöz: 00:01:38:18 - 00:03:33:22

Jörg Fegert: Ja liebe Ekin, diese Kinder haben es schwieriger in verschiedenen Bereichen. Wir haben das ja gerade auch unter Corona gesehen. Wer auf Assistenz, wer auf Unterstützung angewiesen ist, um überhaupt teilhaben zu können, wer höhere gesundheitliche Risiken hat, wer mehr auf sich aufpassen muss, geht ganz schnell in Gefahr, dass er eigentlich isoliert ist und dass man ihm auch nicht zuhört und ihm nicht glaubt. Viele Kinder mit schweren Behinderungen leben auch in verschiedenen Abhängigkeiten von Helferinnen und Helfern. Das ist natürlich was Gutes, dass diese Kinder Unterstützung bekommen. Aber sie haben deshalb auch ein erhöhtes Risiko, dass ihr Ausgeliefert-sein ausgebeutet wird. Und viele haben große Schwierigkeiten in der Erreichbarkeit unseres normalen Hilfesystems. Ich erinnere mich vor vielen, vielen Jahren, als wir zum ersten Mal das Thema Kinder Jugendliche mit geistiger Behinderung in Einrichtungen und sexueller Missbrauch angeschaut haben, haben alle Beratungsstellen gesagt Wir sind offen für diese Kinder, die kommen zu uns nicht. Aber wie hat man den Termin der Beratungsstelle vereinbart? Man ist entweder hingegangen, da muss man in der Stadt sich auskennen, muss dahin finden oder man muss anrufen können. Beides war für diese Kinder nicht möglich. Also wir müssen die Hilfen sehr viel näher an diese Kinder heranbringen, und wir müssen allgemein verständlich reden. Und das ist ja bei vielen Dingen wirklich schwierig, auch eine einfache Sprache zu gebrauchen, obwohl es eigentlich für so viele wichtig wäre.

Jörg Fegert: Dann würden es die Eltern verstehen, da verstehen es unsere Kollegen. Es wäre auch in der Politik wichtig, aber oft will man mit komplexen Formulierungen im Prinzip Dinge bewegen. Es geht darum, dass man wirklich ein Ohr hat für diese Kinder und dass man dahin kommt, wo sie sind.

Jörg Fegert: 00:03:34:09 - 00:04:21:11

Ekin Deligöz: Im Juni 2021 ist das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz in Kraft getreten. Damit hat sich der Gesetzgeber für die große Lösung, die sogenannte große Lösung, also eine Zusammenführung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung unter dem Dach der Jugendhilfe entschieden. Fachkräfte der Kinder und Jugendhilfe müssen spätestens ab 2028 auch spezifischen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung Rechnung tragen. Ekin Deligöz: Was bedeutet das eigentlich für die Institution und die Fachkräfte? Wenn wir jetzt von den Antworten ausgehen, die du jetzt gesagt hast, dass Kinder noch mal eine ganz andere Infrastruktur, Zugang und auch Auf-sie-zugehen eigentlich einfordern müssten.

Ekin Deligöz: 00:04:21:11 - 00:06:39:23

Jörg Fegert: Das heißt wirklich eine große Umstellung, weil zur Hilfeplanung, zum wirklich individuellen Planen, was nötig ist, braucht es ja die Beteiligung der Betroffenen. Und das sind bei jemanden, der kaum für sich sprechen kann zum Beispiel oder bei jemandem, der Zugangsbarrieren hat ins Jugendamt, wirklich große Barrieren und Hindernisse. Deshalb muss die Jugendhilfe noch sehr viel mehr Erleichterer, Unterstützungsformen einbauen in ihre normale Praxis, was aber auch denke ich eine Herausforderung sein wird. Da rede ich jetzt mal ein bisschen ketzerisch Die Klientel der Jugendhilfe wird sich verändern. Wenn das Jugendamt ein Jugendamt für alle Kinder ist, kommen da plötzlich auch Familien, die gut gestellt sind, die anwaltlich vertreten sind, die das Pech hatten, dass sie wirklich ein schwierigeres Schicksal haben, mit einem Kind, was viel medizinische Unterstützung braucht, die alles für dieses Kind realisieren wollen. Also es gibt jetzt plötzlich Leute, die wirkliche Verhandlungspartner sind und ich glaube, das ist eine große Chance, hier wirklich auch demokratisch was zu lernen. Nicht, dass wir Experten wissen, was für die Leute gut ist, sondern dass man sehr viel stärker hinhört - Was wollen die? - und den mündigen Nutzer von Assistenzleistungen in allen Bereichen anschaut. Wichtig ist eigentlich das zentrale Ziel der Teilhabe an der Gesellschaft. Und du hast ja von der großen Lösung oder der inklusiven Lösung geredet. Die Hilfen, die wir anbieten, sind ja eigentlich in der Idealversion immer noch nur der Krückstock, den es so lange braucht, bis die Gesellschaft so offen ist, dass jeder eigentlich frei leben kann und sich entfalten kann und teilhaben kann. Und ich glaube, das Ziel im Blick zu behalten, dass wir nicht primär immer nur über Defizite reden und da eine Hilfe geben und dort eine, sondern eigentlich über selbstbestimmte Leben, über Wünsche von jungen Menschen, wie sie sich verwirklichen können und wie wir Verwirklichung, Chancen, Kinderchancen schaffen, das ist eigentlich die Herausforderung.

Jörg Fegert: 00:06:39:23 - 00:09:37:05

Ekin Deligöz: Da steckt ja auch sehr, sehr viel emanzipative Kindheit drin mit den Kinderrechten. Und ich kann aus meiner Erfahrung in der Politik erzählen, dass diese inklusive Kinder- und Jugendhilfe echt eine Herausforderung ist. Der Bundestag hat immerhin mindestens zwei Wahlperioden gebraucht und das Ministerium ebenso, bis es einen Konsens gab darüber, dass wir einen Weg erst mal anfangen, in Richtung inklusive Kinder- und Jugendhilfe zu gehen. In der ersten Runde ist es komplett gescheitert, in der zweiten Runde gab es dann immerhin ein Gesetz und wir gehen jetzt in der neuen Wahlperiode schrittweise da rein. Also wir fangen schon mal an, das kommt vielleicht nicht unmittelbar zusammen, aber es hängt zusammen, nämlich mit der Modernisierung von SGB VIII, dass wir zum Beispiel die Zuzahlung von Kindern und Jugendlichen, die in Obhut sind, in externer Unterbringung sind, aus ihren eigenen Taschengeldern, streichen wollen. Warum? Wir wollen, wenn ein junger Mensch nebenher im Sommer vielleicht ein bisschen Taschengeld verdient oder eine Ausbildung macht, ein Ausbildungsgehalt kriegt, nicht als erstes das Signal aussenden, wir nehmen dir einen Teil davon weg, sondern Leistung, Anerkennung, Wertschätzen, auch eine Gelegenheit geben, selbstständig, mündig, mit Geld umzugehen. Das wird hoffentlich im Herbst den Bundestag erreichen und demnächst auch so beschlossen. In einem zweiten Schritt gehen wir jetzt schon ganz früh an, verschiedene Strukturen aufzubauen, die sehr diskursiv, sehr niedrigschwellig Verwaltung zusammenbringt. Darüber zu reden Was sind die Herausforderungen, wie können wir sie eingehen? Ein Beispiel ist, dass wir Modellprojekte fördern wollen, um zu sagen, wie könnte Inklusion vor Ort gestaltet werden, womöglich sogar beschleunigt? Weil 2028, wie ich gesagt habe, natürlich noch sehr weit weg ist aber gleichzeitig sehr nah dran und wird aus den Erfahrungen der Vorreiterkommunen profitieren wollen. Es gehört auch dazu, dass wir Careleaver unterstützen wollen, auch viel früher verstetigt zu werden. Careleaver ist ja die Begleitung von Kindern und Jugendlichen aus der Jugendhilfe heraus - auch das wird ein Teil dessen sein. Und ganz groß ist natürlich die Debatte um die Finanzstruktur. Es gehen immerhin von einem Sozialgesetzbuch in das andere Sozialgesetzbuch mit den Rechten auch die Pflichten über. Und da gibt es eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird, insbesondere von Eltern: Ist das Jugendamt eigentlich in der Lage dazu inklusiv zu denken und diese Inklusion auch zu steuern? Sind das die richtigen Ansprechpartner? Es gibt fast schon Ängste darüber, dass mit dem Übergang der Verantwortung in die Kinder- und Jugendhilfe die Rechte der Jugendlichen mit Benachteiligungen, Behinderungen, nicht mehr eingehalten werden.

Ekin Deligöz: Wie siehst du das?

Ekin Deligöz: 00:09:37:13 - 00:12:01:08

Jörg Fegert: Also die Befürchtungen, die kenne ich auch. Ich kenne aber auch die Befürchtungen, dass das, was du gerade beschrieben hast, nämlich dieses riesige, komplexe Reformvorhaben, an ganz vielen Stellen unglaublich viele Detailbaustellen zu lösen hat. Deshalb war ich zuerst mal froh, als ich in eurem Koalitionsvertrag gelesen habe, dass ihr den Prozess beschleunigen wollt, weil viele in der Praxis sagen Ja, gebt uns noch mehr Zeit. Das ist so komplex. Und manche Eltern sagen das auch. Und ich glaube, die Jugendhilfe kann das. Jugendhilfe hat auch quasi ein Herz für alle Kinder. Das bedeutet aber, dass die Jugendhilfe interdisziplinärer werden muss. Das kann man nicht mehr alleine machen. Wenn ich Kinder mit einem medizinischen Versorgungsbedarf habe, mit einem Reha-Bedarf, dann muss ich mit all denen zusammen reden und zusammen planen. Und ich glaube, das ist eine wirkliche Qualitätsentwicklung, die der Jugendhilfe auch gut tut. Ich wollte aber noch mal, weil du von den Careleavern gesprochen hast. Also das sind ja die jungen Menschen, die quasi aus der Jugendhilfe herausgehen und mich hat es total gefreut, dass ihr dieses scheinbar kleine Problem - Dürfen die das Geld behalten oder nicht? - aufgreift. Wir hatten hier Veranstaltungen mit Jugendlichen, hatten auch Frau Büdenbender, die Gattin des Bundespräsidenten, zu Gast, die sich auch für das Thema sehr stark gemacht hat. Und da hat ein Jugendlicher erzählt, der macht eine Ausbildung im KFZ-Bereich, braucht im zweiten Lehrjahr um weitermachen zu können, einen Führerschein, kann sich das Geld, um den Führerschein zu machen aber nicht ansparen. Kriegt er das quasi von Lehrmeister dazu, dann muss er das abführen. Also das hat im realen Leben zu so einer Beeinträchtigung der Entwicklung junger Menschen geführt. Wir alle lernen ja eigentlich über das Sparen auf den Urlaub, über das Sparen auf ein Fahrrad, wie wir Geld einteilen und wie wir später im Leben klarkommen. Und wenn wir diese Kinder bei diesen paar Eurro, um die es da geht, quasi zwangsverwalten und ihnen alles wegnehmen, dann nehmen wir ihnen die Motivation, selbstständig zu werden und auf eigenen Beinen zu stehen. Und deshalb, also es hat mich jetzt gerade richtig gefreut, dass ihr diesen Punkt aufgreift.

Jörg Fegert: 00:12:01:08 - 00:14:10:08

Ekin Deligöz: Ich stehe ehrlich gesagt auch wirklich dahinter. Ganz im Gegenteil. Wir empfehlen ja eigentlich allen Eltern, Bitte gebt euren Kindern Taschengeld und bringt ihnen bei, mit Geld umzugehen. Weil wir auch zeitgleich wissen, dass zum Beispiel die Verschuldung bei Kindern und Jugendlichen zunimmt, wenn sie das nicht rechtzeitig lernen und herangeführt werden. Und ein Motivationsquelle ist es tatsächlich auch. Warum sollten Sie nicht auch die Wertschätzung erfahren, dass Ihre Leistung Ihnen auch anerkannt wird und gewertschätzt wird. Die inklusive Kinder und Jugendhilfe, das wird nicht die letzte Sendung dazu sein, wird uns noch weiterhin beschäftigen. Die Beschleunigung bedeutet nicht unbedingt, dass wir den letzten Schritt, nämlich 2028 vorziehen, aber den Weg dorthin so gestalten, dass wir nicht bis 2027 abwarten und dann ganz überrascht sind - um Himmelswillen, der Zeitpunkt ist da und wir haben eigentlich noch nichts vorbereitet. Natürlich sind die Kommunen gefordert. Ich komme aus Bayern. Wir sind gerade auch in Bayern. Hier sind die Bezirke gefordert. Es gibt Ängste, es gibt Befürchtungen. Und was dahintersteckt, ist: Wir wollen ja nicht nur, dass sich die Strukturen ändern und die Sozialgesetzbücher ändern, sondern die Kultur des Denkens verändert sich. Wir fordern die Gesellschaft an dieser Stelle auch heraus.

Ekin Deligöz: Auf der anderen Seite, auf der Habenseite, muss immer stehen Kinderchancen, Kinder schützen. Und dafür ist Kinder- und Jugendhilfe, dass gesammelte Expertentum - Kinderrechte einhalten. Und es erfordert Umdenken. Deshalb finde ich das auch sehr gut, dass der Bundestag über Parteigrenzen hinaus - der demokratischen Parteien - mutig genug war, um dieses Verfahren einzuleiten und dass es auch jetzt weitergeht. Wie es bei uns weitergeht?

Ekin Deligöz: Dazu lade ich Sie ein, gleich bei unserem nächsten Podcast.

Ekin Deligöz:

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